K. Rauschenberger u.a. (Hrsg.): Nazi Perpetrator Trials in the Eastern Bloc

Cover
Titel
Investigating, Punishing, Agitating. Nazi Perpetrator Trials in the Eastern Bloc


Herausgeber
Rauschenberger, Katharina; von Puttkamer, Joachim; Steinbacher, Sybille
Reihe
Studien zur Geschichte und Wirkung des Holocaust
Erschienen
Göttingen 2023: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
291 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dietrich Beyrau, Institut für osteuropäische Geschichte und Landeskunde, Universität Tübingen

In der Besprechung des Sammelbands mit 18 Beiträgen konzentriere ich mich auf die wichtigsten übergreifenden Aspekte, welche Agitation, Recherchen und den juristischen Umgang mit den NS-Verbrechen in den sozialistischen Ländern Osteuropas prägten. Der zeitliche Schwerpunkt der Untersuchungen liegt in den 1960er-Jahren. Den Hintergrund bilden der Kalte Krieg und die Agitation gegen die Bundesrepublik als Hort von NS-Tätern in Amt und Würden, verbunden mit dem Verdacht revisionistisch-revanchistischer Bestrebungen der bundesdeutschen Politik. Gleichwohl lieferten der Ulmer Einsatzgruppen-Prozess (1958), die Gründung der Zentralstelle zur Untersuchung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg (1958) sowie der erste Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main (1963 bis 1965) Ansatzpunkte zur begrenzten und fallweisen Kooperation fast aller Ostblockländer mit bundesdeutschen Instanzen. Der Eichmann-Prozess (1961) veranlasste zudem dazu, Spielräume auszuloten, wie angesichts der Distanz zu Israel und antizionistischer Phobien und Verschwörungstheorien mit dem Massenmord an den Juden juristisch umzugehen sei.

Ausgangspunkt für den schwierigen, politischen Konjunkturen unterliegenden Umgang mit den NS-Verbrechen sind die Ausführungen von Mary Fulbrook, Jan Tomasz Gross, Audrey Kichelewski und Katharina Rauschenberger. Sie thematisieren die unterschiedlichen Ausprägungen freiwilliger oder unfreiwilliger Komplizenschaft mit der NS-Politik in Deutschland und mit den NS-Besatzungsregimen in Osteuropa. Selbst die kommunistischen Parteien kämpften um Legitimation gegenüber einer Bevölkerung, die – wie in Polen und Ungarn – zu großen Teilen antikommunistisch, antisowjetisch und nicht selten antisemitisch eingestellt war und in vielfältiger, wenn auch sehr unterschiedlicher Intensität mit der NS-Besatzung kollaboriert hatte. Die Wirksamkeit dieser offenen oder verdeckten Komplizenschaft noch nach 1945 belegt Rauschenberger mit der Diskrepanz zwischen den von Ludwigsburg in Angriff genommenen Untersuchungen zu NS-Verbrechen im östlichen Europa und den tatsächlich durchgeführten Prozessen in der Bundesrepublik. Aber selbst in Polen konnten manche Kollaborateure auf Unterstützung durch lokale Institutionen rechnen, wie Audrey Kichelewski nachweist. Und für Litauen betont Gintarė Malinauskaitė den vom KGB organisierten „didaktischen“ Zuschnitt mancher Prozesse im Sinne einer Aufklärung und Umerziehung der Bevölkerung.

Für alle sozialistischen Länder war Israel als Ort des Eichmann-Prozesses insofern ein Problem, als indirekt damit die Eigenwertigkeit des Holocausts sichtbar wurde. Denn die vorherrschende Rhetorik und Propaganda sprach nach sowjetischem Muster von den „friedlichen Bürgern“ oder „ungarischen Bürgern“ als Opfern des Faschismus. Damit wurde das Gewicht des Massenmords an Juden marginalisiert. Hinzu kam die seit dem späten Stalinismus immer noch betriebene antizionistische Propaganda. In ihrer extremen Ausprägung behauptete sie mit Bezug auf die Kazstner-Affäre – Rezsö Kasztners Verhandlungen mit Eichmann über die Freilassung ungarischer Juden gegen Lieferung von Lastwagen – die Nähe und gar die Kollaboration zwischen Nationalsozialisten und Zionisten. Dass dieser Kontext immer noch und wieder eine Rolle spielte, zeigte sich im geradezu obsessiven Antizionismus des Rechtsanwalts Friedrich Karl Kaul, von der DDR entsandter Beobachter im Eichmann-Prozess. Seine Überzeugung stimmte allerdings keineswegs mit der „Generallinie“ der SED überein. Dieser ging es mit dem Eichmann-Prozess einmal mehr vorrangig um die Entlarvung der Bundesrepublik als Hort der Nazitäter. Zugleich diente der Prozess in Israel als Vorspiel zu Prozessen gegen Hans Globke, Theodor Oberländer und anderen, so Rauschenberger. Auch auf Seiten der ČSSR spielte Antizionismus insofern immer noch eine Rolle, als es wie im Falle eines Erich Kraus darum ging, einen ehemaligen jüdischen Funktionshäftling der Kollaboration zu beschuldigen und auf diese Weise zur Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit zu pressen, zeigt Jan Lánỉček.

Die Spielräume, die inzwischen die einzelnen sozialistischen Staaten gegenüber der Sowjetunion gewonnen hatten, zeigten sich in ihrem sehr unterschiedlichen Verhalten zum Eichmann-Prozess. Die sowjetische Seite war an einem koordinierten Vorgehen nicht interessiert. Polen und Ungarn kooperierten daher und schickten Material nach Jerusalem, die DDR schickte einen Beobachter, die ČSSR wollte eigenes Material publizieren, aber nicht kooperieren. Während die Berichterstattung über den Prozess in Polen und Ungarn als sachlich beschrieben wird, gilt sie im Fall der UdSSR, Rumäniens und der ČSSR als „biased“ (S. 55) – in allen Fällen verbunden mit Vorwürfen an die Adresse der Bundesrepublik, wie die Beiträge von András Kovács und Lorena De Vita argumentieren.

Wie unterschiedlich, oft kompliziert, manchmal auch politisch heikel die juristische Aufarbeitung der NS-Massenmorde und damit zugleich die Kooperation mit westdeutschen Stellen war, wird von mehreren Autoren am Beispiel einzelner Akteure gezeigt. Am tschechischen, ungarischen und sowjetischen Beispiel demonstrieren Michael Kraus, Maté Zombory und Ilya A. Altman/Christina Winkler, dass einzelne Personen nach dem Tauwetter und vor dem Hintergrund von Prozessen in Westdeutschland und des Eichmann-Prozesses in den Ländern selbst die Wiederaufnahme von Prozessen gegen Kollaborateure betrieben. Auf diese Weise wollten sie die Judenverfolgung als eigenes Themenfeld in der Öffentlichkeit etablieren. Ihr Anliegen erschien den politischen Instanzen wohl dann opportun oder wenigstens zulässig, wenn sie die Prozesse in Westdeutschland mit Lieferung von Dokumenten oder durch Zeugenaussagen maßgeblich unterstützen konnten. Dass dies sich auch mit der üblichen Kritik an der Bundesrepublik verband, wurde von allen Seiten hingenommen. Vergleichsweise dauerhaft, wenn immer auch sehr schwierig, war die Zusammenarbeit zwischen Ludwigsburg und der Zentralen Kommission zur Untersuchung der NS-Verbrechen in Polen. Die Kommission profitierte von dieser Zusammenarbeit durch vermehrte staatliche Unterstützung und den Zwang zur Professionalisierung. Dies behinderte nicht die anhaltende politische Agitation gegen die Bundesrepublik, veranschaulicht Paulina Gulińska-Jurgiel.

Einen besonderen Fall stellt die Verfolgung der sogenannten Trawniki in der Sowjetunion dar, der „Fußsoldaten“ der Vernichtungslager in Polen und Galizien. Die sowjetische Justiz hatte nach den Reformen der 1950er-Jahre einen Professionalisierungsschub erlebt. Es ging in den Prozessen gegen Kollaborateure nicht mehr um pauschale Anklagen und fiktive Verbrechen, wie in der Stalinzeit. Gleichwohl beruhten die Anklagen gegen die Trawniki weitgehend auf Selbstaussagen als Zeugen. Diese fanden sich dann bald wieder als Angeklagte. Denn als Zeugen waren sie, wie sich leicht belegen ließ, selbst involviert in den Vernichtungsprozess, zeigt David Alan Rich.

Manche Beiträge versuchen, neben der Hervorhebung einzelner Akteure und besonderer Institutionen zugleich einen Überblick über den juristischen Umgang mit den Massenmorden an Juden in den einzelnen Volksrepubliken zu liefern (András Kovács - Ungarn; Hermann Wentker – DDR; Paulina Gulińska-Jurgiel – Polen; Vojtěch Kyncl – ČSSR; Ilya A. Altman/Christina Winkler – UdSSR; Gintarė Malinauskaitė – Litauen). Es fehlen allerdings Rumänien und Bulgarien.

Die Nachkriegsprozesse gegen NS-Täter und Kollaborateure in der Sowjetunion und in Osteuropa sind schon in mehreren Monographien und Sammelbänden – siehe die Angaben im vorliegenden Band - vergleichsweise gut aufgearbeitet. Dies gilt nicht in gleichem Umfang für die Prozesse der 1960er-Jahre gegen Kollaborateure in den sozialistischen Ländern Osteuropas. Von besonderem Interesse im vorliegenden Band sind die Hervorhebung der Spielräume der einzelnen Staaten und ihre teilweise zögerliche Bereitschaft zur Aufarbeitung des Massenmords und der Kollaboration im eigenen Land. Die Vorwürfe gegen die Bundesrepublik und zugleich die fallweise Kooperation mit ihr waren offenbar besonders für die Aktivisten ein Hebel, den Massenmord an den Juden auch in ihren Ländern trotz des dominierenden Antizionismus zum öffentlichen Thema zu machen – ein eigenartiger Aspekt des Kalten Krieges. Diese Verflechtungen herausgearbeitet zu haben, ist das besondere Verdienst dieses Sammelbandes.

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